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„Waldorfschulen haben das große Potenzial, Kindern und Jugendlichen Chancengleichheit zu bieten“

In ihrer vor kurzem erfolgreich abgeschlossenen Dissertation untersucht Larissa Beckel Bildungserfahrungen von geflüchteten Jugendlichen an einer Waldorfschule. Im Interview gibt die Stipendiatin des Graduiertenkollegs Waldorfpädagogik der Alanus Hochschule spannende Einblicke in das Forschungsprojekt und die angewendeten Methoden, spricht über Bildungsgerechtigkeit und zeigt auf, welche Impulse sie sich für die Praxis der Waldorfpädagogik wünscht.

Frau Beckel, Ihre Dissertation trägt den ungewöhnlichen Titel „Ich will kein Märchen werden“. Dieser wird ergänzt durch den Untertitel „Bildungserfahrungen geflüchteter Adoleszenter an einer Waldorfschule“. Geben Sie uns einen kleinen Einblick in Ihr Forschungsprojekt?

Der erste Teil des Titels ist ein Zitat eines der geflüchteten Schüler aus Afghanistan, der an die Waldorfschule gekommen ist, an der ich geforscht habe. Er sagte dieses im Rahmen einer angeregten Diskussion im Unterricht über die eigene Fluchtgeschichte. In der Diskussion ging es vor allem darum, wie Schüler:innen damit umgehen, wenn sie wiederholt auf ihre Fluchtgeschichte angesprochen werden. Das Zitat bringt zum Ausdruck, dass die geflüchteten Jugendlichen nicht zu einer „Integrationserfolgsstory“ stilisiert werden wollen. Denn Märchen enden meist mit „...und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage“. Die Jugendlichen wollen vor allem die Chance haben, anzukommen und ein „normales“ Leben zu führen. Durch das Asyl- und Bildungssystem, aber auch die gesellschaftlichen Diskurse, werden sie ständig daran erinnert, eben nicht „normal“ zu sein. Ein solches „Label“ wiegt mitunter so schwer, dass die Schüler:innen drohen, zu einer „Kunstfigur“ stereotypisiert zu werden.

Im Rahmen meines Promotionsprojekts geht es deshalb vor allem darum, die Erfahrungen der Jugendlichen sichtbar zu machen. Die Jugendlichen sind kompetente Beobachter:innen unterschiedlicher Bildungssettings. Sie haben die Schulsysteme ihrer Herkunftsländer erlebt, waren oftmals an verschiedenen deutschen Regelschulen und sind nun an der Waldorfschule. Sie haben also einen reichen Erfahrungsschatz, was unterschiedliche Bildungs- und Schulsysteme betrifft. Deutlich werden Ressourcen und Barrieren in ihrem Umfeld, die sie entweder dabei unterstützen, gesellschaftlich zu partizipieren oder sie eben davon abhalten.  Während des 1 ½ jährigen Forschungszeitraums begleitete ich die geflüchteten Jugendlichen im Schulalltag. Ich führte Interviews mit ihnen und dem pädagogischen Team und ließ die Beforschten ihren Alltag in Form von Stegreifzeichnungen buchstäblich skizzieren (sogenannte „Narrative Landkarten“). Die ausgewerteten Daten analysierte ich hinsichtlich der Alltagsorganisation,  der Beziehungsgestaltung und der Unterrichtspraxis zwischen pädagogischem Team und Schüler:innen.
 

Was haben Sie dabei herausgefunden? Welche Erfahrungen führen Sie auf waldorfspezifische Strukturen zurück?

Durch das komplexe Forschungsfeld kamen viele verschiedene Erkenntnisse zustande. Die selbstverwalteten Strukturen und die Freiheiten innerhalb der Unterrichtsplanung der Waldorfschulen bieten die Möglichkeit, die pädagogische Arbeit auf die Bedürfnisse der Jugendlichen auszurichten. Hier sind waldorfpädagogische Instrumente wie die Schüler:innenbesprechungen und die Konferenzarbeit der Klassenteams besonders hervorzuheben. Der ganzheitliche Blick auf die Lebenssituation der jungen Geflüchteten macht es möglich, individuelle Angebote zur Unterstützung und Förderung zu finden. Dies setzt ein starkes Engagement der Lehrkräfte und eine Hinwendung zu den einzelnen Schüler:innen voraus. Die Jugendlichen berichteten, dass sie sich dadurch stärker gesehen und wertgeschätzt fühlen als an anderen Schulen. Dies hilft ihnen, an der Schule und damit auch in Deutschland anzukommen und ist ein wichtiger Baustein, um ihren Bildungsweg zu unterstützen.

Der ganzheitliche Blick ist wichtig, denn die unbegleiteten Geflüchteten haben besondere Voraussetzungen, wenn sie in die Schule kommen. Oft hängt von der schulischen Qualifikation ihre Bleibeperspektive teilweise sogar ihr Überleben ab. Insbesondere für die Schüler:innen, deren Flüchtlingsstatus noch nicht anerkannt wurde droht stets die Gefahr, abgeschoben zu werden. Diese unsichere Situation ist für sie extrem belastend. Hinzu kommen Erlebnisse auf der Flucht, die für die Jugendlichen schwer zu verarbeiten sind. Häufige Umzüge und fehlende Mobilität, gerade in den ländlichen Regionen, sind ebenfalls belastend.

Damit die schulische Arbeit gelingt, ist es entscheidend, dass ein vertrauensvolles pädagogisches Verhältnis aufgebaut werden kann. An der beforschten Schule wurden die Schüler:innen von einem multiprofessionellen Team begleitet, zu dem die Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter:innen gehörten. Außerdem gab es im Kollegium Lehrkräfte mit therapeutischen Zusatzqualifikationen und unterschiedlichen Fremdsprachenprofilen. Einige der Kolleg:innen hatten zudem selbst migrantische Erfahrungen. Meine Forschungsergebnisse zeigen, dass ein solches diverses Team hilft, die Jugendlichen besser fördern zu können. Durch die intensive Arbeit mit den Geflüchteten ist an vielen Stellen etwas angestoßen worden, um Unterricht und Schule hin zu mehr Chancengleichheit für alle Schüler:innen zu verändern.
 

Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund weiteren Handlungs- und Forschungsbedarf für die Waldorfpädagogik?

Das übergeordnete Thema, welches mir am Herzen liegt, ist das große Feld der Bildungsgerechtigkeit. Bildungsaufstieg und die sich damit eröffnenden Partizipationsmöglichkeiten sind in Deutschland nach wie vor eng mit dem sozialen Hintergrund der Eltern verknüpft. Insbesondere für geflüchtete Kinder und Jugendliche sowie solche mit  Migrationserfahrung besteht ein hohes Risiko, in gering qualifizierende Bildungsgänge des deutschen Bildungssystems eingruppiert zu werden. Das hiesige Bildungssystem schafft es  leider nur unzureichend, junge Migrant:innen zu fördern.
 

Das ist an Waldorfschulen anders?

Genau. Die Waldorfschule ist im Kern eine Gemeinschaftsschule, in der Kinder und Jugendliche erst nach der achten Klasse in einigen Fächern nach Talenten und Fähigkeiten gruppiert werden. Historisch betrachtet wurde die erste Waldorfschule ja genau mit dem Impuls gegründet, mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Nämlich den Kindern von Arbeiter:innen eine umfassende und qualitative Bildung zu ermöglichen, da sie sonst keinen Zugang dazu gehabt hätten. Durch verschiedene Entwicklungen haben wir heute jedoch an den Waldorfschulen die Situation, dass die Schulen ein relativ geschlossenes Milieu anziehen. In Deutschland haben mittlerweile über 40 Prozent aller Kinder und Jugendliche eigene oder familiäre Migrationsbezüge. Diese gesellschaftliche Realität spiegelt sich (noch) nicht an den Waldorfschulen wider, weder in der Schüler:innen- und Elternschaft, noch in der Zusammensetzung des pädagogischen Teams.


Welche Impulse erhoffen Sie sich von Ihrem Forschungsprojekt für die waldorfpädagogische Praxis?

Ich erhoffe mir, dass Schulen ermutigt werden, sich diverser zu gestalten, was eine migrantische Perspektive anbelangt. Die von mir beforschte Schule, die Interkulturellen Waldorfschulen (etwa in Berlin und Mannheim) sowie weitere Initiativen und Projekte im waldorfpädagogischen Umfeld zeigen, wie dieses Anliegen praktisch umgesetzt werden kann. Durch ihre Struktur und eine Pädagogik, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt, haben Waldorfschulen das große Potenzial, Kindern und Jugendlichen Chancengleichheit zu bieten. Nun gilt es, diese flächendeckender umzusetzen und Barrieren weiter abzubauen, damit Waldorfschulen „Schulen für alle“ sein können. Die Ergebnisse meiner Forschung bieten Anregungen, Schule über die Klassenzimmer hinaus zu denken. Hier spielt beispielsweise auch die Schulsozialarbeit eine wichtige Rolle. Die Interviews mit dem pädagogischen Team zeigen, dass durch das Bemühen um ein multiprofessionelles Team und unterschiedliche biografische, soziale und kulturelle Hintergründe die Schule nicht nur vielfältiger wird, sondern sich die Schulkultur als Ganzes zu mehr Offenheit wandelt.
 

Sie waren Stipendiatin des Graduiertenkollegs Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule. Wie kann man sich das Promovieren in einem Graduiertenkolleg vorstellen? Welche Chancen bietet es?

Während der Zeit innerhalb des Graduiertenkollegs konnte ich sehr vom fachlichen Austausch profitieren, gerade auch, was die anthroposophischen Zusammenhänge anbelangt. Durch die Diskussion innerhalb des multidisziplinären Kollegs habe ich unterschiedliche Perspektiven und Zugänge zu meinem Forschungsthema erhalten. Als besonders wertvoll habe ich auch den Austausch mit anderen Stipendiat:innen erlebt, nicht nur auf fachlicher, sondern auch auf persönlicher Ebene.
 

Wie geht es für Sie jetzt weiter?

Die Themenfelder Diversität, Bildungsgerechtigkeit und Waldorfpädagogik werden mich weiterhin begleiten. Seit November bin ich wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alanus Hochschule am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität in Mannheim. Ich freue mich sehr darauf, mich thematisch näher mit inklusionspädagogischen Fragestellungen auseinanderzusetzen und meinen Blick zu weiten. Denn auch hier geht es darum, Normen, Zuschreibungen und Etiketten zu hinterfragen, um die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen bestmöglich begleiten und fördern zu können.
 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Interview: Katharina de Roos, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Bildungswissenschaft.

Das 2015 gegründete Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule fördert Promotionsvorhaben, die insbesondere die pädagogische Praxis an Waldorfschulen wissenschaftlich untersuchen und vergibt Stipendien. Finanziert wird das Programm von der Software AG – Stiftung, der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen und der Firma Stockmar. Weitere Informationen zum Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik und den Voraussetzungen für eine Promotionsförderung finden sich unter https://www.graduiertenkolleg-waldorfpaedagogik.de.

Foto: Clemens Jurk

„Waldorfschulen haben das große Potenzial, Kindern und Jugendlichen Chancengleichheit zu bieten“