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Interview mit Dr. Philipp Gelitz: „Entscheidend ist Transparenz“

Viel Zeit fürs freie Spiel, Erfahrungsräume für Körper, Seele und Geist: In seiner Doktorarbeit untersucht Philipp Gelitz, wie Eltern und Erzieher:innen den Alltag in Waldorfkindergärten wahrnehmen und beschreiben – mit überraschenden Ergebnissen.

Was ist eigentlich „typisch Waldorfkindergarten“? Dieser Frage ging Philipp Gelitz im Rahmen seiner Promotion nach, die er kürzlich als vierter Stipendiat des Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik abschließen konnte. Seine Experteninterviews mit Fachkräften und Eltern dokumentieren eine pädagogische Praxis, die in vielen Punkten an aktuelle psychologische und erziehungswissenschaftliche Konzepte anschlussfähig ist. Als Mitarbeiter des Instituts für Kindheitspädagogik der Alanus Hochschule will er daran mitwirken, sie in Zukunft stärker in den akademischen Diskurs einzubringen.

Herr Gelitz, in Ihrer Promotion haben Sie sich mit den Besonderheiten der pädagogischen Qualität in Waldorfkindergärten und Waldorfkrippen auseinandergesetzt und dazu Experteninterviews mit Fachkräften, Dozierenden und Eltern geführt. Welches Bild haben Sie dabei erhalten?

In den Interviews wird deutlich, dass das pädagogische Tun von einem bestimmten idealistischen Menschenbild geprägt ist: Wenn man nach Leitmotiven und Orientierungen fragt, dann sprechen die Befragten vom Ankommen einer Person, ihrer Beheimatung auf der Welt und vom Wesen des Kindes – das sind sehr spezifische Formulierungen, die es so in anderen erziehungswissenschaftlichen Diskursen kaum gibt. Ich hätte allerdings gedacht, dass in diesem Zusammenhang viel stärker anthroposophische Termini eingebracht werden, also Begriffe wie Schicksal oder Karma. Das ist nicht der Fall. In Bezug auf die pädagogische Praxis – zumindest so, wie ich gefragt habe – sind diese Themen offenbar nicht relevant.

Was kennzeichnet den praktischen Alltag der Einrichtungen aus Sicht der befragten Erwachsenen?

Auf der Ebene der tatsächlichen pädagogischen Prozesse wird z. B. das freie Spiel genannt, die Bedeutung sinnlicher Erlebnisse sowie von Rhythmus und Ritualen. Gerade Letzteres ist eine Eigenheit der Waldorfpädagogik. Ebenso der ganze Themenbereich Hülle und Geborgenheit, dass man Schutzräume schaffen will, in denen sich die Kinder sicher fühlen. Gemeinschaftserleben ist ein wichtiger Aspekt – unter den Kindern, aber auch in der kollegialen Zusammenarbeit. Da hat mich überrascht, wie stark die Befragten das soziale Miteinander, Zugehörigkeit und Gemeinschaftsbildung in den Vorderrund gestellt haben. Weitere Besonderheiten sind die vielen Feste im Jahreslauf, künstlerische Aktivitäten wie Puppenspiel oder Aquarellieren sowie die hauswirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten der Erwachsenen. Auf der Ebene der Arbeitsstrukturen benennen die Interviewten die Konferenzarbeit. Auch die waldorfpädagogische Ausbildung ist ihnen wichtig.

Wie steht es um den Austausch mit aktuellen  erziehungswissenschaftlichen Positionen?

Die Waldorfschule ist seit einiger Zeit Teil der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die betreffenden Studien werden zwar nicht breit rezipiert, aber sie finden in recht großer Anzahl statt. Für Waldorfkindergärten und -krippen gilt das nicht. Die wenigen Studien in diesem Bereich werden fast gar nicht wahrgenommen, der Brückenschlag ist von beiden Seiten noch nicht begonnen. Hier sehe ich für mich persönlich, aber auch für die Alanus Hochschule eine Aufgabe – selbstverständlich mit einer offenen Haltung und nicht aus der Überzeugung heraus, dass die Waldorfpädagogik sowieso und immer schon alles besser weiß. Entscheidend ist Transparenz: An welchen Stellen hebt sie sich von anderen Modellen ab? Wo kann man sie kontextualisieren, wo ist sie anschlussfähig, wo muss sie sich verändern?

Seit einiger Zeit spielt das Konzept des sog. Embodiment auch im pädagogischen Diskurs eine Rolle. Verkürzt gesagt geht es um das Wechselspiel zwischen Körper, Psyche und Umwelt. Welche Anregungen kann die Waldorfpädagogik der frühen Kindheit hier geben?

Sie ist hier zunächst voll auf einer Linie mit der aktuellen Embodiment-Konzeption und der phänomenologischen Erziehungswissenschaft. Dass die innere Haltung und persönliche Ansichten einer Person davon abhängig sind, welche körperlichen Erfahrungen sie macht, ist heute Konsens. Es gibt allerdings auch einen Unterschied, nämlich die anthroposophische Perspektive der Reinkarnation. Wie ich in den Interviews gesehen habe, spielt dieser Aspekt in der pädagogischen Praxis jedoch keine Rolle. Ob ein Fußboden aus Holz ist oder nicht, ob die Wände rosa lasiert sind, ob ich backe, fege, abwasche usw., hängt nicht davon ab, ob ich ein Bild von Reinkarnation habe, sondern davon, welche Bedeutung ich dem Hier und Jetzt und seinem sinnlichen Erleben beimesse.

Was sind weitere Gemeinsamkeiten?

Auch mit Blick auf psychologische Konzepte gibt es eine große Anschlussfähigkeit: Themen wie Selbstwirksamkeit, Autonomie und Zugehörigkeit, Kompetenzwahrnehmung, der ganze Salutogenese-Diskurs. Die Waldorfpädagogik interessiert sich bisher noch nicht besonders stark für diese Berührungspunkte. Dabei wäre es gut, sie zu besprechen und genauso auch die Unterschiede deutlich zu machen, so dass Eltern sich bewusst für diese Pädagogik entscheiden können, nicht nur aus einem Gefühl heraus. Man kann doch offen diskutieren, dass hier eine spirituelle Perspektive mitgedacht wird. Manche Eltern können damit etwas anfangen, andere eher nicht – für die ist dann vielleicht eine andere pädagogische Strömung passender.

Wo sehen Sie Entwicklungspotenziale in den Einrichtungen?

Ein interessanter Aspekt, auch aus meiner persönlichen Erfahrung als Erzieher, ist der Umgang mit Traditionen. Wie ein Waldorfkindergartentag aussieht, wurde ja nicht von Rudolf Steiner entwickelt. Die praktische Ausgestaltung hat sich zunächst durch wenige Protagonistinnen vor dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber in der Nachkriegszeit etabliert. Alles gut begründet, aber es gibt manches, was wir heute neu befragen sollten: Warum machen wir das so? Da muss sich in der Praxis jeder Einzelne aufmachen. Wenn ich nicht weiß, warum der Schleier über dem Spielständer rosa ist, sollte ich nochmal darüber nachdenken – oder es vielleicht auch anders machen. Ein anderer Bereich sind Teilhabe und Partizipation. Aus der Waldorfkrippenpädagogik, die ja erst in den letzten 20, 25 Jahren entstanden ist, kommen dazu interessante Impulse, die teilweise auf die ungarische Kinderärztin und Pädagogin Emmi Pikler zurückgehen. Ihr Blick auf das kleine Kind und darauf, wie es Selbstwirksamkeit konkret erfahren kann, kann auch der Arbeit mit etwas älteren Kindern wertvolle Anregungen geben.

Sie sind seit einem Jahr an der Alanus Hochschule angestellt, dort in Lehre und Forschung am Institut für Kindheitspädagogik eingebunden. Welche Themen werden Sie in der nächsten Zeit beschäftigen?

Ich habe schon im Herbstsemester 2022/23 eine öffentliche Ringvorlesung zur frühen Kindheit organisiert, bei der wir verschiedene gesellschaftliche Themen mit der waldorfpädagogischen Praxis ins Gespräch gebracht haben: Sprache, Medien oder auch Gesundheitsfragen. Die Beiträge werden nun als Buch veröffentlicht, daran arbeite ich aktuell. In diesen Expertenvorträgen und den anschließenden Diskussionen habe ich einiges gehört, was ich gerne aufgreifen würde, z. B. kritische Nachfragen an die Exklusivität der waldorfpädagogischen Blase. Fürs nächste Herbstsemester plane ich eine Fortsetzung, diesmal aber theoretischer ausgerichtet: etwa mit einem Blick auf die Geschichte der frühkindlichen Waldorfpädagogik oder auch anderer reformpädagogischer Strömungen, oder den Einfluss von Emmi Pikler auf die Krippenpädagogik. Auch hier soll wieder eine Publikation entstehen – ein weiterer Beitrag, um wichtige Themen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs zu platzieren und zu diskutieren. Darüber hinaus habe ich sehr viele Einzelbefunde in meiner Promotion heben können, von denen mehrere lohnenswert erscheinen, sie einmal auf ihre Repräsentativität hin zu untersuchen.

In welcher Form hat das Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule Ihre Arbeit unterstützt bzw. welche Aspekte waren für Sie besonders hilfreich?

In diesem Programm  arbeiten ganz unterschiedliche Kolleg:innen zusammen. Es ist nicht daran gebunden, dass man an der Alanus Hochschule promoviert, sondern das kann auch an einem anderen Ort sein. Bei mir war es Passau. Mein Erstgutachter war Professor Guido Pollak von der dortigen Uni. Daraus folgt, dass die Waldorfpädagogik nicht nur eher intern an der Alanus Hochschule verhandelt wird, sondern in einem offenen Diskurs mit Professor:innen, die dezidiert nicht waldorfsozialisiert sind. Das ist für den Promotionsprozess besonders toll. Die Förderung, die in der Regel drei Jahre lang geht, ist eine starke Ermöglichungsgeste. Das macht frei – wie es für Forschung und Lehre wichtig ist. Genauso wichtig ist die ideelle Förderung durch die Arbeitstreffen und den damit verbundenen Austausch viermal im Jahr. Diese Begegnungen habe ich als ausgesprochen bereichernd und belebend wahrgenommen, da kam richtig frische Luft in die eigene Arbeit.

Das Interview führte Laura Krautkrämer


Philipp Gelitz: Pädagogische Qualität in Waldorfkindergärten und Waldorfkrippen. Eine qualitative empirische Studie zu spezifischen Qualitätsmerkmalen aus Sicht beteiligter Erwachsener. Wiesbaden: Springer VS 2022
https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-40377-5

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