EN
Studienbereiche
Architektur studieren
Eurythmie studieren
Kunst studieren
Kunsttherapie studieren
Pädagogik studieren
Philosophie studieren
Schauspiel studieren
Wirtschaft studieren

Jahrestagung des Instituts für Sozialorganik

Vorträge, Workshops & Kunst: „Gesellschaft neu denken – Auf dem Weg in die Sinngemeinschaft“

Unter dem Thema „Gesellschaft neu denken – Auf dem Weg in die Sinngemeinschaft“ entwickelte das Institut für Sozialorganik am 14. November 2019 auf seiner Jahrestagung mit zahlreichen Gästen und Besuchern Ideen für die sinnvolle Neugestaltung unserer heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse.

  • Wie können Veränderungsprozesse zu einer nachhaltigen Wirtschaft angestoßen werden?
  • Wie müssen wir das Wirtschaftsleben heute gestalten, um Freiheit im Geistesleben und Gleichheit im Rechtsleben sicherzustellen? Wie kann hier eine Balance erreicht werden?
  • Wie können neue Formen für ein neues soziales Miteinander gestaltet werden?

Fragen, die gemeinsam mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst diskutiert wurden, um Denkanstöße zu finden, wie unsere heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse sinnvoll neu gestaltet werden können.

Die Tagung bot eine Plattform, die Inspiration und Diskussionsräume ermöglichte und neue Perspektiven auf Wirtschaft und Gesellschaft eröffnete.

Die Idee der sozialen Dreigliederung – wider den Primat der Wirtschaft

Prof. Dr. Götz Rehn berichtete zur Eröffnung der Jahrestagung davon, dass Rudolf Steiner bereits vor hundert Jahren mit seinem Konzept der Dreigliederung Ideen zur Neugestaltung der Gesellschaft entwickelt habe. Er habe die Gesellschaft als einen sozialen Organismus betrachtet, in dem die drei Wesensglieder, das Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben, zusammenwirkten. Viele unserer heutigen Probleme seien in einem Ungleichgewicht der drei Glieder unserer Gesellschaft begründet.

Indem wir alles zu einem bloßen Objekt degradierten, über das wir frei verfügen und uns zu Nutzen machen können, und uns selbst als bloße Reiz-Reaktions-Wesen verstünden, verfielen wir einem ungezügelten Materialismus und Konsumismus. Dem stellte Rehn die Betrachtung des Menschen als Ausdruckswesen und freien Schöpfer entgegen, der seine Wirklichkeit selbst kreiere.

Das Geistesleben – das eigene Denken lebendiger machen

Daran schloss Dr. Manon Haccius, Bereichsverantwortliche für Qualitätsmanagement bei Alnatura, mit ihrem Vortrag „Der Mensch als Schöpfer“ an.

  • Womit schöpft der Mensch?
  • Was entsteht im Menschen, das nicht durch Natur da ist?
  • Wie wird das Wollen aus einem selbst hervorgebracht?

Im Zeitalter des Überwachungskapitalismus und der Datensammelwut stünde die Freiheit, menschlich zu sein, Fehler zu machen, anzuecken auf dem Spiel: Algorithmen verhinderten Kreativität; Fehler und Zufälle würden systematisch ausgemerzt, um Risiken zu vermeiden.

Haccius plädierte dafür, das eigene Denken beweglicher und lebendiger zu machen, um nicht diesem mechanistischen Menschen- und Weltbild zu verfallen. Dazu geeignet seien etwa das zweckfreie und absichtslose Spiel, Poesie, das Groteske, Kunst und die Aktivierung von Hirnarealen durch Trance und Meditation, welche so effektiv sein kann, wie bewusstseinserweiternde Drogen.

Das Wirtschaftsleben – wie gelingt sinngeleitete Zusammenarbeit?

In seinem Vortrag über das Wirtschaftsleben fragte Götz Rehn nach den notwendigen Bedingungen zur Verwirklichung der Menschlichkeit und der Vermenschlichung der Wirklichkeit in der Wirtschaft.

Der Mensch habe die Fähigkeit, sich als geistige Individualität zur freien Persönlichkeit entwickeln zu können. Hierin liege die Verwirklichung des menschlichen Potentials. Da das Wirtschaftliche in unserer Gesellschaft im Wesentlichen die Gesellschaft bestimme, müsse besonders hier bewusst die Sinnfrage gestellt werden:

  • Für wen arbeite ich?
  • Ist für mich in meiner Arbeit die Bedeutung einer Ganzheit fühlbar?
  • Ist mein Tun von Geist erfüllt?
  • Macht das, was ich tue, Sinn?
  • Wie organisieren wir uns?
  • Wie gelingt die Zusammenarbeit?

Es wird zur Herausforderung, uns unsere gegenseitige Verbundenheit bewusst zu machen.

Jeder Mensch ist ein Künstler – im inneren Atelier neue Formen finden

An den Vortrag von Götz Rehn schloss eine künstlerische Intervention der Beuys-Schülerin Shelley Sacks an. Es müsse eine neue Form der Kunst geben, die es ermögliche, Gesellschaft neu zu gestalten, sagte sie. Dabei ging Sacks von einem erweiterten Kunstbegriff im Sinne Beuys` aus, wonach der Mensch als Freiheitswesen und als Gestalter seiner selbst und von der Gesellschaft die Möglichkeit habe, soziale Kunst mitzugestalten.

Jeder gestalte immer mit den unsichtbaren Materialien Reden, Sprechen und Denken die Gesellschaft aktiv mit, also mit den Materialien für einen neuen Gesellschaftskörper. Dies sei die tiefere Bedeutung des Diktums „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Für Sacks kommen noch Haltungen und Werte dazu. Die innere Haltung, die ein jeder habe, schaffe Form.

Es sei eine neue Form von verbindender Praxis nötig, eine Dialogpraxis mit aktivem Zuhören, um neue Formen des Zusammendenkens und Gestaltens zu schaffen. Damit schloss Sacks an Steiners Idee der sozialen Kunst oder sozialen Architektur an, die er im Jahr 1922 entwickelt hat.

Durch die kollektive Intelligenz der Gruppe könne etwas ganz Neues entstehen, oftmals entstünden so sogar Lösungsvorschläge für komplexe gesellschaftliche Probleme.

In ihrer künstlerischen Intervention demonstrierte Shelley Sacks nun, wie dieser Prozess abläuft. Dabei lud sie die Teilnehmer der Tagung ein, aus Bildern der Vergangenheit und verschiedener Stationen des eigenen Lebens ein eigenes Zukunftsbild zu entwickeln. Das Visualisieren der eigenen Zukunft symbolisiere dabei den eigenen Handlungsfreiraum, die eigene Freiheit zu leben und die Zukunft eigenmächtig zu bestimmen.

Die Teilnehmer der Tagung tauschten ihre Vision mit einem aktiv zuhörenden Partner aus. Durch das Teilen der Imagination wurde ein neues Atelier zwischen den Menschen errichtet, in welchem Ideen entstehen und Zukunftsvisionen verwirklicht werden können.

Kunst, so schloss Sacks ihre künstlerische Intervention, sei mehr als die bloße Diskussion zwischen den Menschen einer Gemeinschaft, es gehe vielmehr um das Schaffen neuer Formen, neuer Einsichten und neuer Begriffe – und eines neuen sozialen Miteinanders.

Das Rechtsleben – Grammatik der Freiheit und Verhältnis von Mensch zu Mensch

Gerald Häfner, Leiter der Sektion für Sozialwissenschaften des Goetheanums, Gründungsmitglied von Bündnis90/Die Grünen, und ehemaliger Abgeordneter des EU-Parlaments, entwickelte in seinem Vortrag die Idee des Rechtslebens als Verhältnis von Mensch zu Mensch, das Menschen im Verhältnis zueinander hervorbringen, durch Vereinbarung und Vertrag.

Die konkrete Ausgestaltung des Rechtslebens sei kontingent und wandele sich durch stete Prozesse der Neuverhandlung und des Sich-Anpassens an neue äußere Umstände ständig.

Historisch betrachtet waren Menschen immer nur mit dem gewordenen Rechtsleben konfrontiert. Es stellte zunächst eine göttliche, von außen an die Menschen gebrachte Ordnung dar. Diese Sichtweise zog sich lange durch die Geschichte, so waren auch europäische Herrscher stets Vollstrecker des Rechts von Gottes Gnaden. Im Zuge der Demokratisierung der Gesellschaft durch die Aufklärung und demokratische Revolutionen wandelte sich dieses Verhältnis. Nun durfte jeder, seit 1918 in Deutschland auch jede, mitwählen und somit seiner Stimme Gehör verschaffen. Das Recht war nun nicht mehr etwas göttlich vorgegebenes, sondern etwas, das aus dem Aushandlungsprozess zwischen Menschen entstand.

Es müsse immer wieder ein neues Fundament für das Rechtsleben geschaffen werden. Die Abwesenheit letzter Gründe wie Gott, Vernunft oder Geschichte dürfe nicht mit der Abwesenheit aller Gründe verwechselt werden. Dies müsse in der historischen Betrachtung bedacht und transparent gemacht werden. Durch den demokratischen Wahlprozess verlagerte sich etwa die Ausgestaltung des Rechts auf wenige gewählte Volksvertreter. Für den einfachen Bürger war Recht somit wieder etwas von außen Gesetztes, dem man sich zu beugen hat, das man aber nicht aktiv mitgestaltet.

Dem stellte Häfner ein Verständnis von Gesellschaft als sozialem Bewegungsbegriff entgegen, der nicht zuletzt auf sozialen Kämpfen basiert. Diese Kämpfe würden eine endgültige Fixierung des Sozialen verunmöglichen. Jede soziale Ordnung könnte auch anders strukturiert sein.

Häfner stellte die Frage, ob unser gesellschaftliches und politisches System in seiner festgeschriebenen Statik, dem dynamischen Rechtsbegriff Steiners gerecht werden kann. Häfner stellte dem die Möglichkeit zu Partizipation und zur direkten Demokratie als dynamischere und für die heutige Zeit passendere Alternative gegenüber.

Praktische Perspektiven gab es dann am Nachmittag in den Workshops.

Manon Haccius: Schöpferisch im Alltag – wie geht das mit der Ideenfähigkeit?

Gemeinsam mit den Teilnehmer*innen des Workshops wurde im Gespräch erkundet, wie man die Ideenfähigkeit, die eigene Kreativität und Lösungskompetenz stärken kann in Zeiten, in denen Algorithmen unser Verhalten immer präziser vorherzusagen versuchen und dadurch Zufall, Überraschung und Neues weniger wahrscheinlich machen.

Oliver Groß und Gerhard Heid (Sonett): Dreigliederung im Wirtschaftsleben – das Unternehmen Sonett als sozialer Organismus

Im Workshop von Sonett ging es um die Frage nach dem Lebendigen. Was macht einen lebendigen Organismus aus? Wo beginnt die Organik und wo endet die Organisation? Wachstum in Organisationen müsse organisch bleiben. Wachse ein Unternehmen sehr stark, müssten Konflikte bewusst und offen angegangen werden. Es sei sehr wichtig, nach Lösungen zu suchen. Eine partnerschaftliche Führung könne dabei helfen.

Prof. Dr. Götz Rehn (Alnatura): Alnatura – ein Erfahrungsbericht aus sozialorganischer Perspektive

In seinem Workshop stellte Prof. Dr. Götz Rehn das Alnatura Modell vor. Bei Alnatura werden neue Formen der Zusammenarbeit erprobt. New Work Räume wie das Citizen Office, Open Space und eine neue Eigentumsform, das Verantwortungseigentum, bilden den Rahmen dafür.

Philipp Hummel (Unternehmensberatung für Sozialorganik): Von Wertbildung zur Wertschätzung – Dreigliederung im Wirtschaftsleben und das Modell der Wertbildungsrechnung

In seinem Workshop „Von Wertbildung zur Wertschätzung – Dreigliederung im Wirtschaftsleben und das Modell der Wertbildungsrechnung“ schaute Philipp Hummel auf die Funktionsweise des Wirtschaftslebens und diskutierte, wie wir wirtschaftliche Prozesse im Unternehmen so abbilden können, dass alle Mitarbeitenden sinnvolle Entscheidungen im Einklang mit der Vision des Unternehmens und dem Gemeinwohl treffen können. Dazu stellte er das Modell der Wertbildungsrechnung vor und diskutierte mit den Teilnehmern Praxisbeispiele.

Inga Ketels (Institut für Sozialorganik) und Jannik Kaiser (Unity Effect): Resonanzverhältnisse im Spannungsfeld von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft:

In ihrem Workshop setzten sich Inga Ketels und Jannik Kaiser intensiv mit dem Begriff der Resonanz auseinander. In welchen Resonanzverhältnissen stehe ich? Welche Herausforderungen gibt es dabei, diese bewusst zu gestalten? Und wie können wir Qualität und Tiefe in unsere Verbindungen bringen? Dies wurde mit verschiedenen Übungen auch praktisch erlebbar gemacht.

Gerald Häfner (Goetheanum) : Die Bedeutung des Rechtslebens für die Gestaltung der Zukunft

In seinem Workshop diskutierte Gerald Häfner Partizipation und direkte Demokratie als Mittel um den ständigen Wandel des Rechtslebens zu gestalten. Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie wäre nötig, um Symptome wie Politikverdrossenheit, Unzufriedenheit mit der Politik, Rechtsruck u.ä. zu adressieren. In der Gesellschaft gäbe es jedoch Widerstände gegenüber basisdemokratischen Entscheidungsverfahren, die größtenteils auf der Angst vor Machtverlust und der Abschaffung von Hierarchien beruhten.

Abgerundet wurde die Tagung durch eine Podiumsdiskussion mit den Referenten und den Workshop- Gebern, bei der über zuvor von allen Teilnehmern gemeinsam erarbeitete Fragen diskutiert wurde.

Es wurde auf dem Podium die Idee eines Zukunftslabors diskutiert, wie es Shelley Sacks bereits mit dem Earth Forum und der University of Trees ins Leben gerufen hat. Dahinter steht die Idee einer Art permanenter Konferenz, mit deren Hilfe Austausch möglich wird. Was brauchen wir, um eine direkte Demokratie mehr in Gang zu bringen?

Es sollte eine Haltungswechsel stattfinden. Jeder sollte sich fragen: „Was kann ich dazu beitragen, dass die Welt glücklicher und besser wird?“, „Wo kann ich mich einbringen?“, und „Wo werde ich gebraucht?“

Menschen haben oft das Gefühl, keine Energie zu haben, sie denken, sie würden ohne Ende Energie verbrauchen. Was sie weniger sehen ist, dass Menschen auch eine unglaubliche Energie erzeugen – vor allem dann, wenn sie mit einem gemeinsamen Ziel zusammen kommen. Wir erzeugen in und zwischen uns Energie durch unser Denken, Fühlen und Wollen.

Zuletzt erfolgte noch die Einladung von Jannik Kaiser, sich im Raum umzuschauen, und zu schauen, ob es hier nicht noch den einen oder die andere gibt, mit der man nochmal sprechen will, und vielleicht auch später etwas zusammen machen will, vielleicht eine neue Form der sozialen Praxis erproben, politisch etwas auf die Beine zu stellen, eine Initiative zu ergreifen…

Auf der Jahrestagung des Instituts für Sozialorganik wurde deutlich, dass Gesellschaft als „gährender, keimender, treibender Inhalt“ des Staates, und als „die lebendige Materie, die ewig die Form aus sich gebiert“, wie es der Hegel-Schüler Moritz Veit 1840 so treffend formuliert hat, niemals stillstehen kann, sondern permanentem Wandel unterworfen ist. Alle sozialen Verhältnisse sind veränderbar und neue Formen des Miteinanders müssen durch stete Verhandlung immer wieder neu geschaffen werden.

 

Einen ausführlichen Rückblick auf die Jahrestagung des Instituts für Sozialorganik mit vielen Bildern gibt es hier.

Jahrestagung des Instituts für Sozialorganik